Der Jüngling und die Blume

2001-08-09

Es war einmal vor langer Zeit ein Jüngling der durch den Wald spazierte. Er genoß diese Spaziergänge, denn im Wald gab es viel zu entdecken. Bäume, deren Erhabenheit ihn vor Ehrfurcht erschauern ließen, Sträucher, deren Zähigkeit und Lebenswillen er bewunderte, zartes Moos, dessen Schlichtheit an seinem Herzen rührte und viele Pflanzen und Tiere mehr. Jeder Spaziergang war ein neues Erlebnis, ein Ausflug ins Reich der Sinne, ein Labsal für die Seele.

So begab es sich eines heissen Sommertages, daß der Jüngling ohne darauf zu achten tiefer und weiter in den Wald vordrang, als jemals zuvor. Da nahm er plötzlich einen Duft war, der schöner, aufregender und intensiver war, als alles was er je zuvor gerochen hatte. Betört folgte er diesem unwiderstehlichen Aroma weiter und immer weiter, bis er schließlich an den Eingang einer engen Schlucht kam. Der Eingang war jedoch von einem großen Felsbrocken verschlossen.

Der Jüngling hielt inne, schloß die Augen und atmete flach durch die Nase ein und aus, um auch die feinsten Nuancen dieses zarten Geschmacks auf sich wirken lassen zu können. Sein Herz war bald erfüllt von dieser Würze, es schlug heftig in seiner Brust, es war ihm, als wolle die ganze Welt ihn umarmen. Trunken sank er zu Boden. Der Duft mußte von einer Blume ausgehen, etwas das er aus Büchern kannte, aber noch nie selbst gesehen hatte. Einer Blume, die von solcher Schönheit und Liebe war, daß es einen jede Sorgen vergessen ließ und das Herz zum Singen und Tanzen brachte.

Jedes einzelne der Blütenblätter glaubte der Jüngling spüren zu können. Wie sie sich der Sonne zuwandten, wie sie fröhlich mit ihren Farben spielten, wie sie friedlich sich im Winde wiegten, wie sie das Leben selbst waren. Es schien fast, als müßte die Blume die ganze Schlucht ausfüllen, als würde der Felsen nicht die Blume vor dem Wald, sondern den Wald vor der Blume schützen. Das Licht spiegelte sich an den Wänden der Schlucht wider, ein berauschendes Kaleidoskop, ein Feuerwerk der Phantasie. Der Wind flüsterte dem Jüngling ins Ohr, erzählte ihm von der Blume. Völlig in seinen Gefühlen versunken, vergaß der Jüngling auf Zeit und Raum. Er wollte nur hier sein, wollte an der Schönheit der Blume teilhaben.

Die Zeit verging und der Jüngling war bald erfüllt von einem unbändigen Verlangen. Der Duft, der ihm die Nase streichelte, der seine Seele rein gemacht und sein Herz mit Liebe erfüllt hatte, schien nicht mehr genug. Der Jüngling wollte mehr, wollte die Blume sehen, wollte sie berühren, wollte ihre Erde, ihre Luft und ihr Licht sein. Dieses Verlangen, dieser unbändige Wunsch nach mehr, machte den Jüngling traurig. Er haderte mit sich, verfluchte den Felsen der trennend dastand und je länger er dasaß um so verzweifelter wurde er ob seiner aussichtslosen Lage.

Da kam ein wilder Hengst daher und der Jüngling klagte dem Hengst von seinem Leid. "Dann nimm Anlauf und springe über den Felsen hinweg.", sagte der Hengst. "Aber was, wenn ich mir dabei das Genick breche? Was wenn ich auf der Blume lande und sie zerstöre?" fragte der Jüngling und fügte hinzu: "Nein, dieses Risiko ist zu groß. Ich könnte alles verlieren." "Dann kann ich dir auch nicht helfen" sagte der Hengst, schnaubte und verschwand in raschem Galopp. Der Jüngling senkte seinen Kopf und war trauriger und verzweifelter als zuvor.

Da steckte ein scheues Reh seinen Kopf aus einem nahen Gebüsch. "Was ist mit dir?" fragte es den Jüngling. Und da erzählte er ihm von der Blume, von ihrem Duft, ihrer Schönheit, ihrer Liebe. Und seiner Liebe und seiner Sehnsucht, die ihn zu zerstören drohte. "Dann mußt du diesen Platz verlassen, die Blume vergessen und niemals hierher zurück kommen, denn sonst zerbricht dein Herz" sagte das Reh. "Das kann ich nicht. Ich bin von ihrer Schönheit gefangen. Was wenn nie wieder ein solcher Duft mir in die Nase steigt? Was wenn sich nach meinem Fortgehen eine Möglichkeit bietet zur Blume zu gelangen?" fragte der Jüngling und fügte hinzu: "Nein, dieses Risiko ist zu groß. Ich könnte nie wieder Lachen." "Dann kann ich dir auch nicht helfen" sagte das Reh und verschwand im Gebüsch.

Der Jüngling senkte tieftraurig seinen Kopf und seufzte. Und wie sehr er auch nachdachte, er fand keine Lösung. Nichts und niemand schien ihm in seiner missliche Lage helfen zu können. Er sah wie er an dem Felsen zerbrechen würde. Doch weder Springen noch Fortgehen war ein möglicher Ausweg. Wäre er bloß nicht dem zarten Duft gefolgt, dann wäre er jetzt nicht in dieser Lage. Der Jüngling fühlte sich einsam und verlassen, er starrte zu Boden.

"Was läßt du den Kopf hängen an einem so herrlichen Tag?" fragte ein Bär, der aus dem Wald kommend sich nun träge an einen Baum lehnte. Da erzählte ihm der Jüngling von seiner aussichtslosen Situation und daß er weder über den Felsen springen, noch einfach fortgehen könne. "Erfüllt dich der Duft der Blume nicht mit Liebe?" fragte der Bär. "Doch" antwortete der Jüngling. "Und ist nicht der Traum die Blume zu sehen und zu berühren aufregender als jede Reise die du unternommen hast?" "Doch" sagte der Jüngling. "Dann verstehe ich nicht, worüber du so traurig bist." sagte der Bär und schüttelte langsam seinen Kopf um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. "Bleib doch einfach hier und freue dich an dem Geschenk, das dir zuteil wird."

"Aber was wenn ich die Blume nie zu Gesicht bekomme?" fragte der Jüngling. "Dann hast du immer noch ihren Duft." "Und was wen es Winter wird und die Blume vergeht, oder sie in der Hitze verdörrt bevor ich sie zu sehen bekomme?" "Dann hast du immer noch deine Erinnerung und deine Träume." antwortete der Bär.

"Freue dich an der Schönheit die dir zuteil wird. Genieße die Gegenwart und lasse deinen Gefühlen freien Lauf. Denn wenn dir danach ist zu springen, wirst du es tun ohne darüber nachzudenken. Und wenn du satt bist, wirst du gehen ohne zurückzublicken. Genauso wie du dich an einem Sonnenuntergang oder am Spiel der Forellen im Bach erfreuen kannst, genauso solltest du dich am Duft der Blume erfreuen. Und genauso wie ein Sonnenuntergang zu Ende geht, wird auch der Duft der Blume nicht ewig währen. Aber das schmälert nicht das Erlebte zuvor, noch nimmt es der erfahrenen Schönheit von ihrem Glanz. Wenn also der Winter über dich hereinbricht, dann bedanke dich für die Liebe deren Teil du sein durftest. Vertraue deinem Herzen und glaube an seine Stärke und es wird nicht an deinem Verlangen noch an der Trennung zerbrechen. Denn in deinem Herzen wird die Blume immer duften." Der Bär setzte ab, um einem Schmetterling nachzuschauen. "Vielleicht trägt auch der Wind den Felsen fort, oder vielleicht wächst direkt neben dir eine andere schöne Blume. Dann sei glücklich und öffne dein Herz." Der Bär kraulte sich mit seiner linken Tatze hinter den Ohren und stand vom Baum auf. "Laß los und laß deinen Gefühlen ihren Lauf. Es gibt keinen Grund ängstlich oder traurig zu sein." Dann trottete der Bär langsam in den Wald zurück.

Der Jüngling blickte dem Bär lange nach. Ein Bär hatte nichts und niemanden zu fürchten, dachte er bei sich. Es würde viel Mut erfordern den vorgeschlagenen Weg zu gehen. Der Jüngling blickte vom Wald zum Felsen, und vom Felsen zum Wald. Dann legte er sich hin, schloß die Augen und atmete langsam durch die Nase ein und aus.

(c) xmp.net